Die Maschine wertet aus – der Mensch entscheidet

BG ETEM gewinnt mit innovativem KI-Verfahren bei eGovernment-Wettbewerb.

Bild: www.egovernment-wettbewerb.de
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Bereits 2009 dachte Dr. Johannes Hüdepohl darüber nach, wie man statistische Daten dazu einsetzen könnte, um zuverlässigere Prognosen zu erstellen. Damals arbeitete der promovierte Chemiker noch in der Prävention der BG ETEM. Sein Ziel: bessere Voraussagen über potenzielle Unfälle in Betrieben ermöglichen.

Seit fünf Jahren ist Hüdepohl Leiter der Stabsstelle Controlling der BG ETEM. Die Aufgaben haben sich geändert, die Herangehensweise nicht. Wieder ging es um die Frage: „Wo können wir mit datenbasierten Algorithmen unsere Prozesse unterstützen?“ Nach einem Workshop mit verschiedenen Fachabteilungen stand fest: „Im Regress sahen wir die besten Realisierungschancen. Zugleich ergab sich hier die Möglichkeit zu schauen, ob ein wirtschaftlicher Nutzen darstellbar ist.“

Erfahrungen auswerten

Etwa 180.000 Arbeitsunfälle werden jährlich bei der BG ETEM bearbeitet – meldepflichtige wie nicht meldepflichtige. Die Regressabteilung prüft rund 55.000 davon. Gegenstand der Untersuchung: Besteht die Aussicht, dass entstandene Kosten zum Beispiel von Fremverursachern wieder hereingeholt werden können?

Trotz aller Erfahrung der beteiligten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wurden nicht alle Regressfälle entdeckt. Das neue Verfahren unterstützt sie bei ihrer Arbeit. Es basiert auf einer Datenbank mit Millionen abgeschlossener Unfälle, darunter auch Informationen zu erfolgreichen Regressfällen. „Die bilden die Zielgröße für den mathematischen Algorithmus“, sagt Hüdepohl. Anhand der Ergebnisse der Vergangenheit lernt das System, laufende Fälle auf ihre Chancen in einem möglichen Regressverfahren zu beurteilen.

„Natürlich können Menschen das auch“, räumt Hüdepohl ein, „aber nicht in diesem Umfang und in dieser kurzen Zeit.“ Erste Vergleiche zwischen Testergebnissen und bekannten Daten aus 2019 bestätigten die Zuverlässigkeit des Systems, das interne Daten aus Cusa und SAP zu Unfallgeschehen und Finanzen auswertet.

Mensch im Mittelpunkt

Dr. Johannes Hüdepohl ist vorsichtig, wenn es um den Begriff Künstliche Intelligenz (KI) geht. „Von Intelligenz sind wir hier noch weit entfernt“, meint er bescheiden – auch wenn es sich um ein lernendes System handelt. Daher ist es den Verantwortlichen in der BG ETEM und ihm sehr wichtig, dass ein Mensch – und nur ein Mensch am Ende die Entscheidung trifft, ob ein Regressverfahren eingeleitet wird oder nicht.

Die Vorschläge der KI müssen hinsichtlich ihres Zustandekommens transparent sein. Daher setzt die BG ETEM auf „white-box“-Modelle. Deren Ergebnisse sind im Gegensatz zu den wesentlich intransparenteren „black-box“-Modellen versteh- und nachvollziehbar. Auch wenn durch den bewussten Einsatz von „white box“-Modellen vielleicht der eine oder andere Prozentpunkt an Ergebnisqualtität vergeben wird, so ist es doch enorm vertrauensbildend zu verstehen, was im Inneren der Modelle geschieht. „Und Vertrauen ist bei dieser neuen Herangehensweise dass größte Pfund.“

Die Maschine unterstützt zudem lediglich mit einer datenbasierten Vorauswahl. Die fachliche Bewertung bleibt stets Sache der Beschäftigten, was eine automatisierte Entscheidung von vornherein ausschließt. Ziel sei vielmehr, Sachbearbeiterinnen und Sachbearbeiter von zeitaufwendigen Routineaufgaben zu entlasten. Ebensowenig gehe es darum, Personal einzusparen.

Im Gegenteil: Perspektivisch haben öffentliche Verwaltung mit wachsendem Personalmangel zu kämpfen. Schon heute sind mehr als ein Viertel der Beschäftigten 55 Jahre und älter. Der Deutsche Beamtenbund geht davon aus, dass der Bedarf im öffentlichen Dienst von derzeit 300.000 fehlenden Fachkräften auf bis zu 816.000 im Jahr 2030 steigen wird.

Der Personalrat der BG ETEM war in das Projekt eingebunden. „Natürlich kann etwas Neues auch Ängste auslösen“, stellt Johannes Hüdepohl fest. „Daher haben wir von Anfang an offen kommuniziert: Es besteht keine Gefahr! KI unterstützt und macht Prozesse effizienter.“

Doppelter Lohn

Das neue Verfahren zahlt sich aus: Bereits in der Entwicklungsphase erzielte die BG ETEM Mehreinnahmen von etwa 1,1 Millionen Euro. Davon profitieren am Ende auch die Mitgliedsbetriebe. Denn sie werden bei den Beiträgen entlastet.

Erfolgreich war das Projekt auch beim „19. eGovernment-Wettbewerb“, einem von zwei Technologieunternehmen seit dem Jahr 2000 ausgerichteten Leistungsvergleich zur Digitalisierung und Modernisierung der öffentlichen Verwaltung. Eine Jury aus Verwaltungs-, IT-, eGovernment- und Wissenschaftsexpertinnen und -experten zeichnete die BG ETEM im Herbst mit dem ersten Preis in der Kategorie „Bestes Projekt zum Einsatz innovativer Technologien 2020“ aus.

Blick in die Pipeline

Die BG ETEM arbeitet bereits am nächsten Projekt, so Johannes Hüdepohl. Es geht um Arbeitsunfälle und Rehamanagement. „Bei schweren Unfällen wissen wir, da muss sich eine Rehaberaterin oder ein Rehaberater besonders kümmern.“ Bei manchen Unfällen ist das aber auf den ersten Blick nicht erkennbar, sie entwickelten sich erst im Lauf der Zeit zum Nachteil der Verletzten. Das Ziel: Diese Unfälle erkennen und frühzeitig ins Rehamanagement einsteuern. Dazu wertet das System bis zu 300 Faktoren aus – von der Schwere der Verletzung über die voraussichtliche Dauer der Arbeitsunfähigkeit bis zur Reha-Eintrittswahrscheinlichkeit.

Darüber hinaus sind weitere Anwendungsmöglichkeiten im Gespräch. „KI kann uns überall da unterstützen, wo große Datenmengen ausgewertet werden müssen“, sagt Dr. Johannes Hüdepohl. Er ist sich sicher, dass ihm die Themen so schnell nicht ausgehen.

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